Wenig bekannte alte Winkel in Quedlinburg

gefunden im "Harzer Familienfreund" 1928                        

Als vor beinahe 100 Jahren Wilhelm Blumhagen seinen Gefühlvollen Harzroman den Ludwig Richter so anmutig mit Bildern schmückte, im "malerischen und romantischen Deutschland " veröffentlichte, da ließ er seine Reisegesellschaft wohl von der Roßtrappe bewundernd die vielen Türme unserer Heimat schauen, aber der Einladung eines anwesenden Quedlinburgers, der die Merkwürdigkeiten seiner Geburtsstadt mit beredtem Munde pries, wurde nicht nachgegeben.
Es sieht beinahe so aus, als wenn unsere alte Stiftsstadt damals nicht so ganz zum Harz gehörig erachtet wurde. Heute ist das anders geworden. Viele fremde Besucher, die von Jahr zu Jahr zahlreicher werden, durchziehen die alten Gassen, um zu bewundern, was trotz allerlei Übeltaten von Vergangenheit und Gegenwart sich an reizvoller Städteschönheit bei uns erhalten hat. Doch der Fremde, dem ja auch oft nur wenig Zeit zur Verfügung steht, sieht meist die im "Führer" oder andernorts angezeigte Reihe der Paradestücke, unserer alten Stadt, birgt aber darüber hinaus, Gott sei Dank, noch manchen Winkel, dessen Stille Schönheit dem entdeckungsfrohen Besucher oft ganz unvermutet in den Schoß fällt.

Johanniskirche

Recht viel Quedlinburger kennen sicherlich den schönen Bismarkhain, der früher Bleicheberg hieß, und seine schattigen Laubgänge, die sich in jedem Jahr mächtiger entwickeln und den Park zu einer Sehenswürdigkeit machen; wer aber kennt das winzige Kirchlein genauer, das versteckt und zusammengekuschelt zwischen den hohen Gebäuden des Johanneshofes steht?
Und ist es eines der ältesten Gotteshäuser unserer an Kirchen so reichen Stadt und sehr wert, eingehender betrachtet zu werden. Zwar sieht es von außen nicht sehr einladend aus, und besonders die unschöne neuere Sakristei an der Straßenseite hält wohl manchen guten Freund schöner Architektur von weiterem Zusehen ab, aber das ist nur äußerlich, schon der lustige schiefe Dachreiter, mit seiner aus der Gotik geretteten Form, winkt zur Westseite herüber, wo der Eingang sich auftut.
Und nun das Innere:
Wie aus Urgroßvaters Raritätenkasten!
Ganz Barock ist die Ausstattung. Mit goldenen Sternen besät die blaue, tonnengewölbte Decke. Altar mit eingebauter Kanzel und die winzige Orgel zeigt die heute wieder geschätzten Merkmale des Stils von 1700 in schönsten Ausformungen.
Wie heiter, dekorativ und schwungvoll bewegt, ja aufrauschend und leidenschaftlich war doch jene Zeit in ihren kunstgewerblichen Bildungen, die in den Kirchen das Gehäuse schuf, für die machtvollen Fugen des Johann Sebastian Bach.
Das Gestühl ist von luftigem Gitterwerk besäumt und so der ganze Kirchenraum in seltener Geschlossenheit erhalten.
Dies barocke Innere täuscht aber über das Alter des Kirchleins. Es stammt noch aus der romanischen Zeit und birgt auch die Reste einer Krypta, die ja selten bei frühromanischen Kirchenbauten fehlt. In dieser alten Kirche haben jene Siechen gebetet, die am Aussatz erkrankt, von allen Mitmenschen gemieden, jahrhundertelang zum Heilbrunnen wallfahrteten,, der noch heute - leider verschlossen - an der Straßenseite des Bleicheberges vorhanden ist.
Die Kirche wird jetzt  nicht mehr zum Gottesdienst benutzt, sie ist von der größeren, neuen Schwester abgelöst worden. Ich bin aber als Junge mal dort zur Kirche gegangen, ich wollte gar zu gern das kleinste Gotteshaus Quedlinburgs kennen lernen.
Und dabei kam ich auch sonst noch auf meine Rechnung.
Als die Orgel unter Ächzen und Stöhnen das Predigtlied in längeren Versen intonierte, und all die alten Männlein und Weiblein sich bemühten, die Melodie herauszufinden, wurde ich, der ich fast einsam oben auf der Empore saß, plötzlich am Ellenbogen gezupft. Es war der Küster, aber nicht mit dem Klingelbeutel, sondern mit einer riesigen Schnupftabakdose bewaffnet, die er mir mit ermunternden Nicken unter die Nase hielt.
Aber ich absolvierte damals die Tertia und verstand mich noch nicht auf dies echt barocke Zubehör des Johanneskirchleins, und so musste der Alte mit missbilligendem Kopfschütteln über meine Ablehnung wieder abrücken.

Aber das waren so die guten, alten Zeiten!