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Die Mitteldeutsche
Zeitung - Mit dem Nachtwächter zum Münzenberg |
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Was gegen Kälte gut ist, hilft auch bei
Wärme, meint Rüdiger Mertsch, setzt an diesem lauen Sommerabend
den dicken Filzhut auf und rückt den warmen Umhang zurecht.
Das Horn wird umgehängt, die Hellebarde in die eine, die Petroleumlampe
in die andere Hand genommen und los geht es. Wieder einmal ist Mertsch
in die Rolle des Quedlinburger Nachtwächters geschlüpft.
Das, was ihm beim abendlichen Rundgang anvertraut ist, sind nicht
die von Feuer und Unheil zu bewachende Häuser ehrbarer
Bürger, sondern Touristen, die sehen und hören, die Quedlinburg
und seine reiche Geschichte kennen lernen wollen. Mertsch ist einer
von 41 Stadtführen in der Weltkulturerbestadt. |
An diesem bewussten Sommerabend geht es vom
Kloppstockhaus hinauf zum Münzenberg und zurück in die
Altstadt. Eine überaus geschichtsträchtige Gegend. Doch
Mertsch überfrachtet seine Begleiter nicht mit jeder Menge
Jahreszahlen und komplizierten historischen Beziehungen. |
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Locker plaudert er drauf los, ist
der einfache Nachtwächter, der eine Unmenge Histörchen und Anekdötchen
zu erzählen weiß. Die von den Henkern beispielsweise, die sich einen
einträglichen Nebenverdienst sicherten. Gab es mal keine Strauchdiebe zu dekolltieren
(einen Kopf kürzer zu machen), verkauften sie Tücher,
die mit dem Blut zuvor Hingerichteter getränkt waren. Das sollte
Böses abwenden. "Wer mag da wohl nicht gekauft haben?",
fragt Mertsch augenzwinkernd. |
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88 Stufen führen von der Langenbergstraße
hinauf zum Münzenberg. Das sei die Wassertreppe, erklärt
der Nachtwächter. Die Frauen vom Berg mussten hier hinunter
und - wesentlich anstrengender - mit ihrer Eimerlast auch wieder
hinauf. Wie immer, wenn er einen Halt einlegt, hat Mertsch die Hellebarde
seitlich aufgestellt und an eine ihrer Spitzen die blakende Petroleumlampe
daran aufgehängt. So hat er eine Hand frei, und das ist bei
eventuellen unvorhergesehenen Zwischenfällen gut so. Wie jetzt,
als zwei Knirpse mitten in die Erklärung hinein fragten, wozu
denn das gebogene Ding am Gürtel des Nachtwächters gut
sei. Mertsch nimmt das "Ding" an den Mund und bläst
kräftig in das Horn. Die Kleinen sind zufrieden. Auf dem Münzenberg
wird Mertsch wie ein Alter Bekannter begrüßt. Kein Wunder,
denn bei den Bauarbeiten hier war er mit dabei. "Ich kenne
so gut wie alle Münzenberger, allerdings kaum mit Namen, sondern
mehr von der Hausnummer her", verrät er.
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Aufmerksamkeit ist dem etwas andern Stadtführer
nicht nur auf dem kleinen Stadtteil auf dem Berg gegenüber
der Stiftskirche sicher. "Glauben Sie dem nicht, der lügt",
klingt es spaßhaft in der Mühlenstraße. Beim Überqueren
der Wipertistraße - nach dem der Münzenberg über
107 Stufen der so genannten Schultreppe wieder verlassen wurde -
winken Autofahrer und lächeln freundlich. Und in der Hohen
Strasse fragt eine Passantin angesichts des rein weiblichen Gefolges
des Nachtwächters, ob er denn heute der Hahn im Korbe sei.
Manch Neugieriger gesellt sich für kurze Zeit zu der Runde. |
Für Mertsch ist das alles nichts Ungewöhnliches.
Seit 25 Jahren führt er Touristen durch die Stadt, manchmal
ein-, zweimal in der Woche, manchmal mehrere Male an einem Tag,
wie zum Beispiel zu Ostern oder Pfingsten. Als Nachtwächter
hat er dann auch immer seine ganz besonderen Auftritt. Zum Schluss
der Führung erklingt weithin hörbar der überlieferte
Singsang: |
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"Hört
ihr Leut und lasst euch sagen, |
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unsre Uhr hat
neun geschlagen. |
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Löscht das Feuer
und das Licht..." |
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Beifall
ist ihm dann garantiert. |
Quelle:
Mitteldeutsche Zeitung
Redakteurin: Sigrid Dillge |
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