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Hört, ihr lieben Herren, |
lasst euch
sagen, |
vom Turm die
Glock`... |
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Mit dem
Nachtwächter durch die mittelalterlichen Gassen |
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Zwischen den letzten Sonnenstrahlen und mit Einbruch der Dämmerung wird
es still in der Stadt. Kaum noch ein Mensch ist auf den Strassen und
Plätzen zwischen den Fachwerkhäusern zu sehen. |
Hinter den ersten Butzenscheiben glimmert Lichtschein auf. Nur hier und
da sieht man einen Schatten in den schmalen Gassen hinter einer Mauer
oder in einem Torbogen huschen. Es wird Nacht in der kleinen Stadt am
Harz und da verschließt man besser Tor und Tür |
Nur einer ist noch unterwegs.
Angetan mit einem weiten Umhang und einem Filzhut, der ihn vor den
Regenschauern schützt, mit denen jetzt hier am Fuße des Harzes zu
rechnen ist, stapft Rüdiger Mertsch über das Kopfsteinpflaster. In der
Rechten hält er die Hellebarte (man weiß ja nie, wer plötzlich aus einem
Finsteren liegenden Torbogen herausspringt), in der Linken die Laterne. |
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Sein Horn, mit
dessen Klang er seine Runde beginnt und auf dem er zur jeden vollen
Stunde bläst, baumelt an einem langen Riemen vom Hals. Mit diesem Horn
würde er auch die schlafenden wecken, sollte es irgendwo zündeln und ein
Feuer gierig über das Jahrhunderte alte Fachwerkstädtchen herfallen.
Feuersbrünste habe schon so mancher Stadt den Garaus bereitet und der
alte Turmwächter, der früher für die Brandalarmierung und für Ordnung
und Sicherheit zuständig war, den haben die edlen Herren längst
entlassen. Seine Aufgaben müssen die Nachtwächter nun zusätzlich mit
übernehmen. |
"Da kommt er,"
schallt es dem Mann mit der Laterne und der Hellebarte entgegen, als er
von der Breite Strasse kommend an der Benediktikirche vorbei den
Marktplatz betritt. Vor dem ehrwürdigen Rathaus und dem steinernen
Roland hat sich Volk versammelt. |
Der Quedlinburger Nachtwächter wird an diesem
Frühherbstabend seine erste Runde durch seinen Hoheitsbereich nicht
allein laufen müssen. |
Die Menschen auf dem Marktplatz, Frauen, Kinder,
Männer unterschiedlichster Statue, sind von weit her gekommen. Sie
verbringen ihren Urlaub oder nur ein verlängertes Wochenende in der
Stadt, in der angeblich Finken es waren, die König Heinrich seine
Berufung ins Ohr zwitscherten. Man sagt auch, Quedlinburg sei seine
Lieblingspfalz gewesen, was angesichts der wunderschönen Häuserzeilen
und prächtigen Kirchen nicht abwegig erscheint. Nicht zu vergessen der
Schlossberg mit der Stiftskirche St. Servatius. |
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Nachdem Mertsch einen kleinen Obolus für die
nächtliche Führung kassiert hat, bricht die Gesellschaft auf. Es geht
sofort - in die Hölle. Von der Hölle, einer winzigen Gasse aus, fällt
der Blick auf den Schuhhof. Ein schmaler Tunnel führt auf der
gegenüberliegenden Seite unter dem alten Innungshaus der Schuhmacher
hindurch und verbindet das abgeschiedene, frühere Handwerkerviertel mit
dem Marktplatz. |
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Auf dem Weg durch die Altstadt wird der Nachtwächter
keinen Sack voll mit Geschichtszahlen über die Köpfe seiner Begleiter
stülpen und er führt sie auch nicht an die Orte, die zum vermeintlichen Pflichtprogramm "Quedlinburg in
zwei Stunden" gerechnet werden. Die kennen die Touristen ohnehin. Dafür
sind seine Geschichten mit erfrischenden Anekdoten und, unter dem Siegel
der Verschwiegenheit, preisgegebenen Geheimnissen gespickt. Die
Begleiter bekommen die urigste Hausnummer der Stadt zu sehen (und deren
Geschichte erzählt), erfahren, das sich einst der Teufel in die
Blasiikirche eingeschlichen habe und von dort von den Gläubigen im hohen
Bogen auf die Gasse befördert wurde. Die Scharten in der Kirchenmauer,
an der er sich im Zorn und Flüche ausstoßend die Krallen gewetzt hat,
sind noch immer zu sehen. |
Zwischendurch wird immer wieder einmal angehalten und
alle scharen sich um den wissenden Mann. Manche Kinder schauen ihn fast
andächtig an - wann erleben sie schon einmal Geschichten von vorgestern
so hautnah? Solch ein Halt an der Ecke Stieg und Hoken, nutzt der
Nachtwächter zu einem Erfrischungstrunk. Reden macht Durstig. Die
freundliche Bedienung vom Kaffee "Roland" reicht ihm ein Gläschen Bier,
das er dankend annimmt. Einige der Nachtwanderer kennen dieses
einzigartige Kaffee, in dem auch leckere Speisen gereicht werden, von
einigen Besuchen her. Der "Roland" ist in sage und schreibe sieben
ineinander verschachtelten Gebäuden untergebracht. |
Auch so etwas hat nur Quedlinburg zu bieten. |
Es soll auch schon einmal vorgekommen sein, das sich
zwei Nachtwächter bei ihrer Patrouille in die Quere kamen und einen
blutigen Händel austrugen. Die Reviere waren schon damals fest
abgesteckt und wer in das Fremde eindrang, für seinen Nachtwächterdienst
gar noch bei den zahlungspflichtigen reichen Kaufleuten abkassierte, der
musste mit Unbill rechnen. Kam es dann zu einem Mord, so wurde der
Totschläger ohne großen Aufhebens "dekolletiert" - einen Kopf kürzer
gemacht. Aus diesem Grund wohl endet der nächtliche Rundgang an der Ecke
Hohe Strasse / Carl-Ritter-Strasse. |
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Mertsch weist mit ausgestrecktem Arm in Richtung der
hell angestrahlten Stiftskirche, die sich über den Köpfen auf dem
Schlossberg erhebt: "Dort drüben beginnt das alte Westendorf, die
Neustadt mit dem Damenstift und dem Schloss. Die Ecke gehört eigentlich
nicht zur Quedlinburger Stadt dazu." |
Der begeisterte und belesene Historiker muss es ja
wissen. Ob allerdings alle seine Geschichten, die er seinen Zuhörern auf
diesem etwa zweieinhalb stündigen Spaziergang durch diese
geschichtsträchtigen Gassen und über die Plätze aufgetischt hat, zu
belegen sind, das wird sein Geheimnis bleiben. |
Nachtwächter sind ja bekanntermaßen schon
berufsbedingt ziemlich oft alleine mit sich und ihren Gedanken. Dadurch
haben sie unendlich viel Zeit zum Nachdenken.... |
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"Hört , ihr lieben Herren, |
lasst euch sagen,
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vom Turm die Glock` hat elf geschlagen! |
Elf der Jünger blieben treu. |
Gib, dass wir im Tode ohne Reu." |
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Menschenwachen, kann nichts nützen. |
Gott muss schützen. |
Gib uns eine gut Nacht! |
(Refrain zu den 12
Versen) |
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Der letzte echte Nachtwächter versah übrigens seinen
Dienst bis zum Jahre 1886. |
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